Feuerwerk der Aromen
Wintergemüse erwacht aus dem Dornröschenschlaf. Nicht zuletzt, weil wir heute andere Möglichkeiten haben, es zu kochen, als noch zu Omas Zeiten. Foodpairing, Foodcompleting und verschiedene Garmethoden: Das Wissen darüber hilft uns, Gemüse schmackhafter zuzubereiten. Gemeinsam mit Thomas A. Vilgis und Sensorik-Wissenschaftlerin Christine Brugger präsentiere ich dir nun frische Inspirationen für Wintergemüse. Damit du nie mehr sagst, Karotte, Kohl oder Lauch seien langweilig!
Thomas A. Vilgis ist wohl der Experte im deutschsprachigen Raum für die Zubereitung von Rüebli, Rande und Co. Als Physikprofessor befasst er sich intensiv mit molekularen Lebensmittelwissenschaften und durchschaut physikalische Kochprozesse. In Zusammenarbeit mit Fast-Namensvetter Thomas A. Vierich schrieb er ausserdem das erfolgreiche Werk «Aroma Gemüse», das jüngst als bestes Gemüsebuch im deutschsprachigen Raum 2018 ausgezeichnet wurde. Mit uns sprach er darüber, welche Garmethoden den kulinarischen Horizont beim Gemüse erweitern können.
Ein spannendes Element sind zum Beispiel Röstaromen. «Quasi gewaltsames Anrösten ist eine tolle Zubereitungsart », verrät der Physiker im Gespräch. «Lauch etwa lässt sich wunderbar verkohlen auf dem Feuer. Im Innern wird er im eigenen Saft langsam gedämpft und braucht, dank der Röstaromen, nicht einmal mehr Salz.» Am Tisch schneidet man ihn auf und isst das Herz. Wer den Lauch nicht so stark verkohlen will: «Man kann ihn auch anflämmen aussen, dann mit etwas Öl vakuumieren und Sousvide garen bei 82 bis 88 Grad, etwa eine Stunde.»
Quasi gewaltsames Anrösten ist eine tolle Zubereitungsart
Trotz aller Wissenschaft: in Vilgis’ Küche passiert vieles intuitiv. Generell empfiehlt er allen, sich etwas zu trauen, auch mal spielerisch vorzugehen und der Kreativität freien Lauf zu lassen. Wie damals, als er im Garten Thymian abholzte. «Weil das Thymianholz so geduftet hat, gab ich es kurzerhand in den Wok und räucherte damit Rüebli», erklärt er. Im Gespräch schwärmt Vilgis von den süsslichen Raucharomen, wie andere den meerigen Geschmack einer Auster ausloben.
Durch das Garen unter Druck bleibt am Schluss vor allem Zucker übrig, während sich die schwefligen Aromen verflüchtigen.
Doch nicht immer ist Rauch die Methode der Wahl. Manchmal macht es auch Sinn, Gemüse komplett ohne Röstaromen zu verarbeiten. Als Beispiel führt Vilgis den Rotkohl an. Den kann man im Dampfkochtopf mit so viel Druck garen, dass er fast zu Brei wird. Aber ist nicht gerade verkochter Kohl etwas von gestern? «Stimmt, die meisten Leute mögen den schwefligen Geruch von gekochtem Kohl nicht», so Vilgis. Um andere Aromen herauszukitzeln, habe er mit dem Dampfkochtopf experimentiert. «Durch das Garen unter Druck bleibt am Schluss vor allem Zucker übrig, während sich die schwefligen Aromen verflüchtigen.» Resultat: Ein süssliches Püree, das prima etwa zu Wild passt und sich sogar als Dessertkomponente gut macht. Dafür kombiniert Vilgis Apfelwürfel, Bananenglace und Rotkrautpüree, dem er für den Kochprozess Portwein beigibt.
Mit der natürlich vorhandenen Süsse im Gemüse spielt auch Vigils Rüeblipüree. Dazu vermischt er Rüeblistücke mit viel Butter und köchelt sie unter ständigem Rühren stundenlang, gibt nur hin und wieder wenig Wasser dazu. «Als ich das zum ersten Mal probierte, hat mich das Resultat fast umgehauen.»
Nicht unerwähnt bleiben darf natürlich die beliebteste Zubereitungsart der innovativen Gemüseküche heute: die Fermentation. Sie bringt das berühmte Umami ins Spiel. Für eine klassische Laktofermentation mit Milchsäurebakterien kann man zum Beispiel Randenblätter und -scheiben mit etwas Salz vakuumieren und ein paar Tage auf die Heizung legen. Durch Fermentation bleibt das Gemüse zwar roh, wird aber durch die Bakterien einer Art Garprozess unterzogen.
Eine weitere überraschende «Garstufe» von Gemüse aus Vilgis’ Buch: Er grillt Lauchscheiben kurz an und gibt sie in den Tiefkühler. Eine Viertelstunde vor Genuss lässt man die Scheiben auftauen. «Klar, das ist eine Spielerei. Der Esser erwartet etwas Heisses, wegen der Grillstreifen am Gemüse – wird dann aber überrascht durch die Kühle. Das ist angewandte Multisensorik.»
Von wegen Wintergemüse ist langweilig. Zusammen mit der Sensorik-Wissenschaftlerin Christine Brugger habe ich spannende Aromenkombinationen erarbeitet für Rüebli, Lauch, Rande, Rotkohl.
In roher Form schmecken Rüebli erdig, leicht holzig und terpenig, etwas blumig. Sie erinnern an Kampfer, sind etwas bitter mit langanhaltendem Aroma. Gekocht entwickeln sie ein süssliches Aroma, das leicht fruchtig, blumig und krautig ist. Je länger die Rüebli gekocht werden, umso süsser werden sie. Das Aroma und der Geschmack sind sortenbedingt. Die violette Purple Haze hat beispielsweise blumige Aromen, die an Veilchen erinnern, Rodelika – eine weit verbreitete Sorte – ist roh bereits ausgesprochen süss. Karotten sollten nicht zusammen mit Äpfeln gelagert werden, das macht sie bitter. Tipp: Das Kraut eignet sich sehr gut für Pesto – das Aroma erinnert an Petersilie und Muskat.
Leicht süsslich und scharf ist Lauch in roher Form. Sein Aroma erinnert an Zwiebeln, ist schweflig, grünwachsig und leicht bitter im Nachhall. Während des Dünstens verflüchtigen sich einige Zwiebelaromen (Schwefelaromen) und das Aromaprofil gleicht eher dem gekochter Kartoffeln oder Bohnen. Hinzu kommen Aromen, die an Meeresalgen erinnern, mit einer leicht fischigen Note. Durch das Kochen nimmt die Schärfe deutlich ab, das ausgeprägte Zwiebelaroma verringert sich und die Süsse des grün-weissen Stangengemüses nimmt zu.
Roh schmeckt die Rande ausgeprägt erdig, leicht bitter und leicht terpenig (wie die Karotte). Durch den Kochprozess verändern sich die Aromen, Rande wird süsslich, leicht kampfer-artig, leicht terpenig. Sie entwickelt eine leichte Bitterkeit und ein kartoffelartig-nussiges Aroma. Die starke erdige Note verflüchtigt sich beim Kochen. Die in der Rande vorhandene Oxalsäure löst die Säureempfindung auf der Zunge aus. Das Aroma der Rande bleibt am intensivsten erhalten, wenn sie im Salzmantel im Ofen gegart wird.
Roh schmeckt Rotkohl typisch kohlartig und schweflig. Im Aroma erinnert er an Senf, auf der Zunge ist er leicht stechend und etwas bitter. Gedünstet erinnert Rotkohl an das Aroma von gekochten Kartoffeln. Beim Kochen wird aus den Zellen Zucker freigesetzt, was die Bitterkeit überdeckt und den Rotkohl deutlich süsser erscheinen lässt. Tipp: Geschmack und Aromen werden intensiver, wenn man den Rotkohl aufwärmt – es lohnt sich also, dieses Gemüse bereits einen Tag vor dem Genuss zuzubereiten.
In Zusammenarbeit mit Thomas A. Vilgis & Christine Brugger
Wintergemüse-Rezept und Kolumnen
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